Fr 26.04. 20:00

Silberner Bär: Bestes Drehbuch Körners Corner

Sterben

Deutschland 2023 180 min

Regie: Matthias Glasner

Darsteller: Corinna Harfouch, Lars Eidinger, Lilith Stangenberg, Anna Bederke, Ronald Zehrfeld, Hans Uwe Bauer, Robert Gwisdek, Saskia Rosendahl

FSK: 16

Zunächst ist „Sterben“ nur der Titel der Komposition, an der Dirigent Tom Lunies und der Komponist, sein bester Freund Bernard, arbeiten. Bernard ist depressiv, die Freundschaft droht unter den Differenzen über die Aufführung durch ein junges Orchester zu zerbrechen. Aber der Tod wird in Toms Leben bald wirklich eine Rolle spielen. Sein Vater Gerd ist dement, irrt halbnackt umher und fällt Toms Mutter Lissy schwer zur Last. Sie weiß sich nicht mehr zu helfen und so muss er ins Heim abgeschoben werden, denn auch Lissy ist schwer krank.

Indessen ernennt Toms Exfreundin Liv, in die er immer noch verliebt ist, ihn kurzerhand zum Ersatzvater ihres Babys, während seine Schwester Ellen dem Alkohol, dem Lebensrausch und dem Sex mit dem verheirateten Zahnarzt Sebastian, ihrem Chef, zugetan ist. Die Familie Lunies ist längst zerrissen, man hat sich nichts mehr zu sagen. Da offenbart der Tod des Vaters die tiefen Wunden der Vergangenheit und holt zutage, was lange verdrängt und totgeschwiegen wurde.

Regisseur Matthias Glasner (DER FREIE WILLE, 2006) dreht in großen Abständen intensive Kinodramen um menschliche Abgründe. STERBEN, so überraschend das klingt, ist sein leichtester, sein reifster Film. Mit dem brillanten Ensemble-Cast gelingt ein raffiniert verwobenes Episodenspiel über eine zerbrochene Familie, über den Rausch des Lebens und über die Direktheit des Todes. Erstaunlich ist, dass das so lustig und traurig zugleich ist, so schmerzhaft und schön, so voller detaillierter Beobachtungen, dass man den Protagonisten dieses Todesreigens noch lange folgen möchte. Es gibt auch Szenen, die den Zuschauer quälen, dann wieder gehört einer der Höhepunkte des Filmes, die „Aussprache“ zwischen Tom und seiner gefühlskalten Mutter, zum Intensivsten, was das deutsche Kino in letzter Zeit geschaffen hat. STERBEN ist gleichzeitig ein berührendes Drama und eine absurde Komödie. Zurecht erhielt Glasner für das Drehbuch den Silbernen Bären der diesjährigen Berlinale.
Jürgen Bürgin

„Ich sitze in einem Coffee Shop direkt an der nächsten Ecke, nur ein paar Schritte von unserer Wohnung entfernt. Mein erstes Kind, gerade erst geboren, wartet darauf, von mir durch den Park geschoben zu werden, damit es endlich einschläft. Auch ich will schlafen, aber ich kann nicht. Ich starre aus dem Fenster, raus auf die Straße, Schönhauser Ecke Danziger. Und ich sehe die Gespenster meiner Eltern, die hier nie gewesen sind, dort mitten im Verkehr stehen. Sie sind vor kurzem schnell nacheinander gestorben, nach langem Leiden. Ich will ihnen verdammt nochmal endlich nahekommen, was mir Zeit ihres Lebens nicht gelungen ist. Und die einzige Methode für mich, überhaupt irgendetwas oder irgendwem nahe zu kommen, ist es, einen Film zu machen.
Also fange ich an zu schreiben, im Lärm der Kaffeemaschinen, an diesem trostlosen Ort. Schreibe in den nächsten Wochen hier jeden Tag für ein paar Stunden. Erst nur über meine Eltern, dann wird klar, dass es nicht geht, wenn ich nicht selbst darin vorkomme. Also schreibe ich auch über mich. Und dann plötzlich über alles. Über das ganze Leben, so, wie ich es kannte, bevor ich eine neue Familie fand. Und zwar genau so.
Es ist ein Experiment: Ist es möglich, einen Film als eine Annäherung an sich selbst zu machen, gegen alle dramaturgischen Regeln? Einen Film, der kein „Produkt“, kein „Content“ sein will? Einen Film, der sich selbst nicht kennt, der aus reiner Atmosphäre besteht, der im Ungefähren verharrt? Der nichts beweisen, nicht mal behaupten möchte. Die von mir früher geliebte Serie „Seinfeld“ geht mir durch den Kopf: „The show about nothing“.
Zwei Monate später sind in diesem Coffee Shop 200 Seiten geschrieben worden, meist übermüdet, ein bisschen manisch vielleicht.
Kann das am Ende irgendjemanden interessieren?
Der Deal mit mir selbst ist, dass ich mit diesem Projekt stoisch voran gehe, bis mich die Umstände stoppen. Soll heißen: Bis ich kein Geld kriege, um weiterzumachen. Denn Film kostet immer Geld, sehr viel Geld.
Aber niemand stoppt mich. Produzenten finden sich, Geld findet sich. Schauspieler wollen meine Mutter, meinen Vater, mich und all die anderen Figuren spielen, die ein Amalgam aus gelebtem Leben und einer freidrehenden Imagination sind, denn auch das gehört zu mir: Meine Fantasien und Ängste, die aus der Konfrontation mit der Welt entstehen, die ich nicht verstehe.
Wir drehen in einem somnambulen Zustand. Wir treffen uns morgens und fangen einfach an, ohne Proben, jeden möglichen Zweifel verdrängend, no hope no fear, wie Caravaggio sagt, einfach immer weiter. Auf der Suche nach der Magie des Augenblicks, den die Kunst für einen bereit hält, wenn man sich dafür öffnet, in dem man ihn nicht erzwingen will.
Und da wir auch keine Mittagspausen machen, gehen wir jeden Abend gemeinsam Essen und reden viel, über uns, über die anderen und über das Unglück der Zeit. Und all das strömt in das Unterbewusstsein dieses Films ein, der wie ein lebendiger Organismus ist, weil wir ihn uns nicht „erarbeiten“, sondern einfach LEBEN.
Jetzt ist er fertig. Und der Zuschauer hat die Möglichkeit, für eine Weile an dieser Strömung teilzuhaben. Eine Lebenserfahrung zu machen. Vielleicht sogar ein paar Freunde fürs Leben kennenzulernen. Mehr geht nicht."
Matthias Glasner