Körners Corner - schreiben über Film


4. Juli 2024

Wenn (Film-)Stimmen stimmen

Nick Cave war „in da house“, genauer, im Festspielhaus Hellerau. Freilich nicht persönlich, er schickte mit Charly Hübner einen Bruder im Geiste. Der Schauspieler hatte vor Jahren die zunächst anmaßende Idee, den australischen Düsterboy des Rocks mit Franz Schubert kollaborieren zu lassen. Zusammen mit dem famosen Hamburger Ensemble Resonanz gingen sie nun auch in Dresden auf besondere „Winterreise“ und Charly Hübner fühlte sich beim Sprechen und Singen von drei Cave-Songs sichtlich sicherer als beim älteren Meister der Liedkunst. Er hatte sich „Mercy Seat“, „Where The Wild Roses Grow“ und „Sweetheart Come“ ausgesucht.
Nick Cave hat jetzt auch den Deutschen Hörbuchpreis 2024 in der Sparte Hörspiel gewonnen. Wieder nicht persönlich, sondern über nächste Gesandte und erneut sind es vor allem Stimmen, die stimmen und von namhaften Schauspielerinnen und Schauspielern stammen. Caves Epos THE SICK BAG SONG, von Eike Schönfeld präzise als DAS SPUCKTÜTENLIED aus dem Englischen geholt, setzt in 80 absolut beeindruckenden Minuten an, ein musikalisch-textliches und mit Geräuschen collagiertes Eigenleben zu entfalten. Als „langes Liebeslied in Zeitlupe“.
Kai Grehn, 1969 in Grevesmühlen geborener Theater- und gefragter Hörspielregisseur, hat einige der Besten für das Projekt gewinnen können. Tilda Swinton spricht und singt (!), Alexander Fehling übernahm den Hauptpart, Paula Beer ist ebenfalls dabei. Großartige Musik stammt von der freigeistigen Berliner Band Tarwater (Bernd Jestram/Ronald Lippok), Lars Rudolph spielt Trompete. Zusammen entwickeln sie eine so wuchtige wie feinsinnige Melange, die zum mehrfachen Hören förmlich einlädt.
Mehrfach ist sicher nötig, denn abgesehen von akustisch immer wieder neu zu entdeckenden Details, muss man auch diesen Nick-Cave-Text (wie seine bislang veröffentlichten Romane) stets erst erobern und dann verdauen. Seine offensive Mischung aus Surrealismus und Reflexion von Tatsächlichkeiten erreicht in THE SICK BAG SONG einen neuen Höhepunkt. Formal sind es Gedanken, Visionen, wilde Träume, überraschende Erlebnisse und gärende Erinnerungen, geschrieben auf Spucktüten, mitgenommen auf Flügen in Nordamerika. Nick Cave war mit den Bad Seeds auf Tour durch die USA und Kanada, packte sich ein Kontingent dieser Tüten ein, um, wo immer es ging, Tagebuch zu führen. Oft ist das Notierte sogar nachvollziehbar, sind die Gedanken fokussiert. Mehr und mehr aber rauscht Cave durch die Blitzlichtgewitter in seinem Kopf und formt daraus experimentelle Poesie.
Da heißt es: „Irgendwo habe ich gelesen, meine beste Arbeit läge hinter mir. Aber wo?“ Es kann so passiert sein. Auch das: Nick Cave ist mit Johnny Cash an dessen letzten Tagen im Studio und er sieht, wie der große alte, gebrechliche, fast blinde Mann gesund wird, als er seine Gitarre greift. „Ich habe“, so Cave, „aber auch schon gesunde Männer gesehen, die krank wurden, als sie ihr Instrument nahmen.“ Dann wieder taucht Bryan Ferry in Badehose und Schreibblockade am Pool auf, der kleine Nick in Australien, ein kopfloser Leichnam nahe Nashville/Tennessee. Hier wird es ohrenscheinlich fiktiv und gerafft aus wilden Gedankenspielen. Und Tilda Swinton sagt wie im Mantra: „You must take the first step alone“. Extraordinär!
Nicht nur nebenbei sei erwähnt, dass die Hör-CD von THE SICK BAG SONG in einer nicht minder extraordinären Aufmachung erschienen ist, verpackt in einem gefalteten Plakat.
Und auch das noch: Nach gemeinsamen Soundtracks mit Geiger Warren Ellis, zuletzt für „Back To Black“, „Blond“ und „Der Schneeleopard“, erscheint am 31. August 2024 mit „Wild God“ das neue Studioalbum von Nick Cave & The Bad Seeds.

+ + Nick Cave THE SICK BAG SONG - DAS SPUCKTÜTENLIED, Produktion Radio Bremen mit dem BR und SWR, Verlag Zweitausendeins (ISBN 978-3-96318-176-4), 22 Euro

Post für Andreas Körner