Körners Corner - schreiben über Film


27. Juni 2024

Nicht verrechnet

Was dem klassischen Pianisten seine Goldberg-Variationen sind, stellt für Mathematiker die Goldbachsche Vermutung dar. Eine extreme Herausforderung! Schwer aufzulösen, das Ding!
Nach Anna Novions Film DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist man als ehemaliger Schüler, der die naturwissenschaftlichen Fächer abgrundtief versenken wollte, nicht viel klüger über Gleichungstheorien, gerade und womöglich schiefe Zahlen oder Primgedöns. Dafür ist man ungleich reicher an Kinoerfahrung, hat mit Ella Rumpf eine ganz wundervolle junge Schweizer Schauspielerin kennengelernt, sah sich bestätigt im Wissen, dass Jean-Pierre Darroussin ein unvermindert Großer ist in seinem Fach des stillen Lautgebens. Das gern als kleiner Ellenbogencheck, ein sanftes Drängen hin ins Kino, denn nicht immer muss man sich vom Filmtitel offensichtlich eingeladen fühlen.
Zu viele Menschen aber scheinen diesen Stubser nicht zu brauchen, denn DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS wurde ohne großes Zutun im Vorfeld zum Publikumsliebling der diesjährigen 25. Französischen Filmtage im PK Ost gewählt. Diese Ehre zählt ja doppelt, weil uns die Franzosen nicht immer solche Freuden bereiten.
Obwohl, herb ist sie ja schon irgendwie, diese Marguerite. Vollends konzentriert auf ihr Studium an der Pariser École Normale Supérieure (Was, bitte, bedeutet eigentlich das „Normale“ hier im Uni-Namen?) und ihre Dissertation, bei deren Titel schon die Finger brechen, tippt man die Buchstaben völlig unbefangen in die Tastatur: „Arithmetische Folgen in endlichen Menge ganzer Zahlen“. Doktorvater Professor Laurent Werner ist vernarrt in das Potenzial von Marguerite, er reizt sie und fordert sie vehement für Größeres heraus. Nur liegt ihm erst in zweiter Instanz Marguerites Lösung besagter Goldbachscher Vermutung am Herzen, denn er rätselt noch immer selbst daran. Es geht „nur“ um eine Doktorarbeit, die Marguerite dann beim Verteidigen vor versammelter Mannschaft gründlich versemmelt. Besonders negativ hervorgetan hat sich dabei Kommilitone Lucas, kein kleineres Genie als Marguerite, also ebenfalls besonders reizvoll für den Professor. Allerdings bläst Lucas noch nebenbei Posaune in der Brass Band der Uni. Frechheit, so viel Freizeit für Genüsse! Für Marguerite ist diese Art Verschwendung von Ressourcen ein No-Go. Sie bläht schon die Nüstern auf über die orgiastische Lust ihrer WG-Frau Noa, die zudem auch noch tanzt, selten aufräumt und Schauspielerin werden will. Obwohl, war da nicht auch ein kurzer Blick der Bewunderung in Marguerites Augen?
Lange Schreibe, kurzer Sinn: DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist (obwohl es mit Ariane Mézard sogar eine Mathe-Beraterin im Drehteam gab) nur vage ein Mathe-Film. Es ist auch kein überdrehtes 2.0 von BEAUTIFUL MIND, obwohl hier genauso lange Formeln an Zimmerwände geschrieben werden. Es ist eine völlig irdische Geschichte von Zwängen, dem Unlogischen in der Logik, von Trotz und dem Sich-Öffnen-Können, von Rivalität und Ecken mit Kanten, also völlig normalen menschlichen und ja, sehr gern weiblichen Zügen. Denn von Pfiffigkeit erzählt dieser Film auch. Was anders ist Marguerites Verdienstquelle als Mahjong-Meisterin im chinesischen Viertel?
Professor Werner, den Marguerite schließlich völlig einzunehmen weiß, sagt einmal zu ihr, die Mathematik dürfe nicht unter Gefühlen leiden. Physik auch nicht, Chemie keineswegs und Astronomie erst recht nicht. Fein, dass es Malerei gibt, Musik, das Dichten!

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